International Dialogue: Chieti 2016
Synodalität und Primat im ersten Jahrtausend: Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis im Dienst an der Einheit der Kirche

„Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft (koinonia) mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft (koinonia) mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Dies schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen ist.“ (1 Joh 1,3-4)

(1) Kirchliche Gemeinschaft [communion] entsteht direkt aus der Menschwerdung des ewigen Wortes Gottes gemäß dem Wohlwollen (eudokia) des Vaters durch den Heiligen Geist. Christus, der auf die Erde gekommen ist, gründete die Kirche als seinen Leib (vgl. 1 Kor 12,12-27). Die Einheit, die zwischen den Personen der Dreieinigkeit existiert, spiegelt sich wider in der Gemeinschaft (koinonia) der Glieder der Kirche miteinander. Wie der hl. Maximus der Bekenner bekräftigte, ist die Kirche eine Ikone [eikon] der Heiligen Dreifaltigkeit.1 Beim letzten Abendmahl betete Jesus Christus zu seinem Vater: „Bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins sind wie wir“ (Joh 17,11). Diese trinitarische Einheit manifestiert sich in der heiligen Eucharistie, wenn die Kirche zu Gott dem Vater durch Jesus Christus im Heiligen Geist betet.

2) Von frühester Zeit an existierte die eine Kirche als eine Vielzahl von Ortskirchen. Die Gemeinschaft (koinonia) des Heiligen Geistes (vgl. 2 Kor 13,13) wurde sowohl innerhalb jeder Ortskirche wie auch in den Beziehungen zwischen ihnen als eine Einheit in Verschiedenheit erfahren. Unter der Führung des Geistes (vgl. Joh 16,13) entwickelte die Kirche Ordnungsstrukturen und verschiedene Praktiken in Übereinstimmung mit ihrem Wesen als „ein Volk, geeint durch die Einheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“.2

(3) Synodalität ist eine grundlegende Qualität der Kirche als Ganzer. Wie der hl. Johannes Chrysostomos sagte: „‚Kirche‘ bedeutet sowohl Versammlung (systema) wie Synode (synodos)“.3 Der Begriff kommt vom Wort „Konzil“ (synodos in Griechisch, concilium in Latein) und bezeichnet in erster Linie eine Versammlung von Bischöfen unter der Führung des Heiligen Geistes zum gemeinsamen Beraten und Handeln in der Sorge für die Kirche. Im weiteren Sinn bezieht er sich auf die aktive Teilnahme aller Gläubigen am Leben und an der Sendung der Kirche.

(4) Der Begriff Primat bezieht sich darauf, dass einer der Erste (primus, protos) ist. In der Kirche gehört der Primat ihrem Haupt, Jesus Christus, der „der Ursprung ist, der Erstgeborene der Toten; so hat er in allem den Vorrang“ (Kol 1,18). Die christliche Tradition zeigt klar, dass im synodalen Leben der Kirche auf verschiedenen Ebenen jeweils ein Bischof als der „Erste“ anerkannt worden ist. Jesus Christus verbindet dieses „Erster“-Sein mit dem Dienst (diakonia): „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein“ (Mk 9,35).

(5) Im zweiten Jahrtausend wurde die Communio zwischen Ost und West zerbrochen. Viele Anstrengungen wurden unternommen, um die Communio zwischen Katholiken und Orthodoxen wiederherzustellen, aber sie hatten keinen Erfolg. Die Gemeinsame Internationale Kommission für den theologischen Dialog zwischen der Römisch-katholischen Kirche und der Orthodoxen Kirche hat in ihrer laufenden Arbeit zur Überwindung theologischer Divergenzen die Beziehung zwischen Synodalität und Primat im Leben der Kirche untersucht. Unterschiedliche Verständnisse dieser Wirklichkeiten spielten eine bedeutsame Rolle bei der Trennung von Orthodoxen und Katholiken. Es ist daher unabdingbar zu versuchen, ein gemeinsames Verständnis dieser miteinander verknüpften, komplementären und untrennbaren Wirklichkeiten herzustellen.

(6) Um dieses gemeinsame Verständnis von Primat und Synodalität zu erreichen, ist es notwendig, über Geschichte nachzudenken. Gott offenbart sich in der Geschichte. Es ist besonders wichtig, gemeinsam eine theologische Lektüre der Geschichte von Liturgie und Spiritualität, Institutionen und Kanones der Kirche zu unternehmen, die immer eine theologische Dimension haben.

(7) Die Geschichte der Kirche im ersten Jahrtausend ist entscheidend. Trotz bestimmter vorübergehender Brüche lebten Christen aus Ost und West in dieser Zeit in Communio und in diesem Kontext wurden die wesentlichen Strukturen der Kirche geschaffen. Die Beziehung zwischen Synodalität und Primat nahm verschiedene Formen an, die Orthodoxen und Katholiken in ihrem Bemühen, die volle Communio heute wiederherzustellen, eine lebendige Leitlinie [vital guidance] geben können.

Die lokale Kirche

(8) Die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, deren Haupt Christus ist, ist in der eucharistischen Versammlung [synaxis] einer Ortskirche unter ihrem Bischof gegenwärtig. Der Bischof ist derjenige, der ihr vorsteht (der proestos). In der liturgischen Synaxis macht der Bischof die Gegenwart Jesu Christi sichtbar. In der Ortskirche (d.h. einer Diözese) sind die vielen Gläubigen und der Klerus unter dem einen Bischof miteinander in Christus geeint und stehen in Gemeinschaft mit ihm in jedem Aspekt des Lebens der Kirche, ganz besonders in der Feier der Eucharistie. Der hl. Ignatius von Antiochien lehrte: „Wo der Bischof ist, dort sollen alle Menschen sein, ebenso wie wir da, wo Jesus Christus ist, die katholische Kirche (katholike ekklesia) haben“.4 Jede Ortskirche feiert in Communio mit allen anderen Ortskirchen, die den wahren Glauben bekennen und die gleiche Eucharistie feiern. Wenn ein Priester der Eucharistiefeier vorsteht, wird der Ortsbischof immer kommemoriert als ein Zeichen der Einheit der Ortskirche. In der Eucharistie sind der proestos und die Gemeinde voneinander abhängig: Die Gemeinde kann die Eucharistie nicht ohne einen proestosfeiern, und umgekehrt muss der proestos mit einer Gemeinde feiern.

(9) Diese wechselseitige Bezogenheit zwischen dem proestos oder Bischof und der Gemeinde ist ein konstitutives Element des Lebens der Ortskirche. Zusammen mit dem Klerus, der mit seinem Amt verbunden ist, handelt der Ortsbischof in der Mitte der Gläubigen, die Christi Herde sind, als Garant und Diener der Einheit. Als Nachfolger der Apostel übt er seine Sendung als eine Sendung des Dienstes und der Liebe aus, indem er seine Gemeinde hütet und sie als ihr Haupt zu immer tieferer Einheit mit Christus in der Wahrheit führt, und den apostolischen Glauben durch die Verkündigung des Evangeliums und die Feier der Sakramente erhält.

(10) Da der Bischof das Haupt seiner Ortskirche ist, repräsentiert er seine Kirche gegenüber anderen Ortskirchen und in der Gemeinschaft aller Kirchen. Ebenso macht er diese Gemeinschaft in seiner eigenen Kirche gegenwärtig. Dies ist ein Grundprinzip der Synodalität.

Die regionale Gemeinschaft von Kirchen

(11) Es gibt reichlich Belege dafür, dass es Bischöfen in der frühen Kirche bewusst war, eine gemeinsame Verantwortung für die Kirche als Ganze zu haben. Der hl. Cyprian sagte: „Es gibt nur ein Bischofsamt, aber es ist verteilt auf die einträchtige Schar all der vielen Bischöfe.“5 Dieses Band der Einheit drückte sich in der Forderung aus, dass zumindest drei Bischöfe an der Weihe (cheirotonia) eines neuen Bischofs teilnehmen sollen;6 es war auch offenkundig bei den vielfachen Versammlungen von Bischöfen in Konzilen oder Synoden, um zusammen Angelegenheiten der Lehre (dogma, didaskalia) und der Praxis zu diskutieren, und in ihren häufigen Briefwechseln und gegenseitigen Besuchen.

(12) Schon während der ersten vier Jahrhunderte entstanden verschiedene Gruppierungen von Diözesen innerhalb bestimmter Regionen. Der protos, der Erste unter den Bischöfen der Region, war der Bischof des ersten Sitzes, der Metropolie, und sein Amt als Metropolit war immer an seinen Sitz gebunden. Die Ökumenischen Konzile schrieben dem Metropoliten gewisse Vorrechte (presbeia, pronomia, dikaia) zu, immer im Rahmen der Synodalität. So hat das erste Ökumenische Konzil (Nizäa, 325), das von allen Bischöfen einer Provinz ihre persönliche Teilnahme an oder ihre schriftliche Zustimmung zu einer Bischofswahl und Bischofsweihe verlangte – einem synodalen Akt par excellence –, dem Metropoliten die Bestätigung (kyros) der Wahl eines neuen Bischofs zugeschrieben.7 Das vierte Ökumenische Konzil (Chalcedon, 451) rief die Rechte (dikaia) des Metropoliten wieder in Erinnerung, indem es darauf bestand, dass dieses Amt kirchlich, nicht politisch ist8, wie das auch das siebte Ökumenische Konzil (Nizäa II, 787) getan hat.9

(13) Der Apostolische Kanon 34 bietet eine kanonische Beschreibung der Beziehung zwischen dem protos und den anderen Bischöfen jeder Region: „Die Bischöfe des Volkes einer Provinz oder Region (ethnos) müssen den anerkennen, der unter ihnen der Erste (protos) ist, und ihn als ihr Haupt (kephale) betrachten und nichts Wichtiges ohne seine Zustimmung (gnome) tun; jeder Bischof soll nur das tun, was seine eigene Diözese (paroikia) und die von ihr abhängigen Gebiete betrifft. Aber der Erste (protos) kann nichts tun ohne die Zustimmung aller. Denn auf diese Weise wird Eintracht (homonoia) herrschen und Gott wird gepriesen werden durch den Herrn im Heiligen Geist“10.

(14) Die Institution der Metropolie ist eine Form regionaler Communio zwischen Ortskirchen. Danach entwickelten sich andere Formen, nämlich die Patriarchate, die mehrere Metropolien umfassten. Ein Metropolit wie auch ein Patriarch waren Diözesanbischöfe mit voller bischöflicher Gewalt innerhalb ihrer eigenen Diözesen. In Angelegenheiten, die sich auf ihre jeweiligen Metropolien oder Patriarchate bezogen, mussten sie jedoch im Einklang mit ihren Mitbischöfen handeln. Diese Art zu handeln bildet die Wurzel synodaler Institutionen im strikten Sinne des Wortes, wie etwa einer Regionalsynode von Bischöfen. Diese Synoden wurden vom Metropoliten oder Patriarchen einberufen und standen unter deren Vorsitz. Er und alle Bischöfe handelten in gegenseitiger Komplementarität und waren der Synode rechenschaftspflichtig.

Die Kirche auf der universalen Ebene

(15) Zwischen dem 4. und dem 7. Jahrhundert wurde die Ordnung (taxis) der fünf Patriarchalsitze anerkannt, gegründet auf die Ökumenischen Konzile und durch sie sanktioniert, mit dem Sitz von Rom an erster Stelle, der einen Ehrenprimat (presbeia tes times) ausübt, gefolgt von den Sitzen Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem, in dieser bestimmten Reihenfolge, gemäß der kanonischen Tradition.11

(16) Im Westen wurde der Primat des Sitzes von Rom, insbesondere vom 4. Jahrhundert an, mit Bezug auf die Rolle des Petrus unter den Aposteln verstanden. Der Primat des Bischofs von Rom unter den Bischöfen wurde nach und nach interpretiert als ein Vorrecht, das ihm zukommt, weil er Nachfolger Petri, des Ersten der Apostel, war.12 Dieses Verständnis wurde im Osten nicht übernommen, wo man die Heilige Schrift und die Väter in diesem Punkt anders interpretierte. Unser Dialog kann auf diese Angelegenheit in der Zukunft zurückkommen.

(17) Wenn ein neuer Patriarch auf einen der fünf Sitze in der taxis gewählt wurde, war die normale Praxis, dass er einen Brief an alle anderen Patriarchen sandte, in dem er seine Wahl bekanntgab und ein Glaubensbekenntnis beifügte. Solche „Communio-Briefe“ drückten zutiefst das kanonische Band der Communio unter den Patriarchen aus. Indem der Name des neuen Patriarchen in der richtigen Reihenfolge in die in der Liturgie verlesenen Diptychen ihrer Kirchen eingefügt wurde, erkannten die anderen Patriarchen seine Wahl an. Die taxis der Patriarchalsitze fand ihren höchsten Ausdruck in der Feier der heiligen Eucharistie. Wann immer zwei oder mehr Patriarchen sich zur Feier der Eucharistie versammelten, standen sie gemäß der taxis. Diese Praxis macht den eucharistischen Charakter ihrer Communio deutlich.

(18) Vom ersten Ökumenischen Konzil (Nizäa, 325) an wurden gewichtige Fragen bezüglich des Glaubens und der kanonischen Ordnung in der Kirche durch die Ökumenischen Konzile diskutiert und gelöst. Obwohl der Bischof von Rom bei keinem dieser Konzile persönlich anwesend war, war er in jedem Fall entweder durch seine Legaten vertreten oder er stimmte den Konzilsbeschlüssen post factum zu. Das Verständnis der Kirche von den Kriterien für die Rezeption eines Konzils als ökumenisch entwickelte sich im Laufe des ersten Jahrtausends. So gab beispielsweise das siebte Ökumenische Konzil (Nizäa II, 787), herausgefordert durch historische Umstände, eine detaillierte Beschreibung der Kriterien, wie man sie damals verstand: die Zustimmung (symphonia) der Oberhäupter der Kirchen, die Mitwirkung (synergeia) des Bischofs von Rom und die Zustimmung der anderen Patriarchen (symphronountes). Ein Ökumenisches Konzil muss seine eigene Zahl in der Reihenfolge der Ökumenischen Konzile haben und seine Lehre muss im Einklang mit der der früheren Konzile stehen.13 Die Rezeption durch die Kirche als Ganze ist immer das letztgültige Kriterium für die Ökumenizität eines Konzils gewesen.

(19) Im Laufe der Jahrhunderte wurde eine Anzahl von Appellationen in Disziplinarangelegenheiten, wie der Absetzung eines Bischofs, an den Bischof von Rom gerichtet, auch aus dem Osten. Auf der Synode von Sardica (343) versuchte man, Regeln für ein solches Verfahren aufzustellen.14 Sardica wurde auf dem Konzil in Trullo (692) rezipiert.15 Die Kanones von Sardica bestimmten, dass ein Bischof, der verurteilt worden war, an den Bischof von Rom appellieren konnte, und dass dieser, falls er es für angemessen hielt, eine neue Verhandlung anordnen konnte, die die Bischöfe der Nachbarprovinz des betreffenden Bischofs durchführen sollten. Appellationen in Disziplinarangelegenheiten wurden auch an den Sitz von Konstantinopel gerichtet16 und an andere Sitze. Solche Appellationen an Hauptsitze wurden immer auf synodale Weise behandelt. Appellationen an den Bischof von Rom aus dem Osten brachten die Communio der Kirche zum Ausdruck, aber der Bischof von Rom übte nicht kanonische Autorität über die Kirchen des Ostens aus.

Schluss

(20) Das erste Jahrtausend hindurch war die Kirche im Osten und Westen geeint im Bewahren des apostolischen Glaubens, im Aufrechterhalten der apostolischen Sukzession der Bischöfe, im Entwickeln von Strukturen der Synodalität, die mit dem Primat untrennbar verbunden ist, und in einem Verständnis von Autorität als Dienst (diakonia) der Liebe. Obwohl die Einheit von Ost und West zeitweise gestört war, waren sich die Bischöfe von Ost und West bewusst, zu der einen Kirche zu gehören.

(21) Dieses gemeinsame Erbe von theologischen Grundsätzen, kanonischen Bestimmungen und liturgischer Praxis aus dem ersten Jahrtausend bildet einen notwendigen Bezugspunkt und eine kraftvolle Quelle der Inspiration für Katholiken wie für Orthodoxe, wenn sie zu Beginn des dritten Jahrtausends die Wunde ihrer Teilung zu heilen suchen. Auf der Grundlage dieses gemeinsamen Erbes müssen beide überlegen, wie Primat, Synodalität und deren wechselseitige Bezogenheit heute und in Zukunft verstanden und ausgeübt werden können.

Synodalität und Primat im ersten Jahrtausend: Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis im Dienst an der Einheit der Kirche